Über die Hegemonie des Ikons

Kommentar

von Enkidu rankX © 2003

erstmals veröffentlicht im Magazin Versa #1 [1]

Das Ikon ist keine Erfindung der Silizi­um-Neuzeit, auch nicht in seiner reduktiven Form. Das Ikon als Abbild des Heiligen, als gleichgesetzter und gleich­wertiger Spiegel des Abgebildeten finden wir in zahllosen Kulturen, u.a. massiv in der Katholischen und Orthodoxen Glaubensrichtung, in der der Begriff in seiner abgewandelten, religiösen Form als Ikone zum Ding an sich wird. Doch im Gegen­satz zu diesen vielschichtigen kulturellen Relikten erscheinen uns heutige Ikonen als schal, als saftlos und leer. Ungeachtet dessen, ist der Kult um sie herum nun stärker geworden, als er es je zuvor war. Was ist daran auszusetzen? Die Menschheit hat seit ihrer Entstehung mit Sym­bolen hantiert, sie angebetet, sie sogar als Fortschrittsmotor genutzt. Manch einer lässt sich dazu verführen, zu behaupten dies – die kreative Kraft des Menschen zur Symbolbildung sei es erst, was uns zum Homo Sapiens Sapiens, dem sich seiner selbst bewussten, sich selbst reflektierenden Wesen macht. Doch Ikon und Symbol sind wahrhaft nicht dasselbe geschweige denn das Gleiche.

Was ist ein Symbol, was ein Ikon? Beide, da werden wir uns schnell einig, lassen sich unter dem Oberbegriff des Zei­chens (im weitesten Sinne) kategorisieren. Hierbei ist es wichtig der griechischen Übersetzung des Begriffs »Eikon« als Bild nicht auf den Leim zu gehen. Ich spreche hier vom Bild als Metapher, von dem Ikon als stilisiertem Abbild einer Sache. Das Ikon steht stellvertretend für ein Ding, eine Abfolge von Handlungen, eine Situation im allgemeinen Sinne. Es verweist auf jene, und das in eindeutiger Form, ohne jedoch die Vielschichtigkeit dieser Angelegenheiten zu beleuchten. So sagt die »Shellmuschel« (auch, und vor allem Brands und Logos sind Ikons) alles über den Besitz der Tankstelle an der Ecke aus, ohne jedoch die Praktiken, Absichten und vor allem die Ideologie des repräsentierten Konsortiums näher zu beleuchten. Wir wissen die Tankstelle verkauft Benzin der Royal Dutch Shell A G, doch was ist Royal Dutch Shell AG?

Nun werden einige zu Recht monieren, ein Symbol (griech. Symbolon: Zeichen) sei in genau dieser Art und Weise zwei­deutig und unbestimmt und sage genau­so wenig oder viel aus über das Symboli­sierte. Ein Bild und ein Zeichen, das sei doch dasselbe. Dies ist so nicht richtig. Ein Bild repräsentiert eine Sache, ein Zeichen weist – in diesem Sinne – auf einen Zusammenhang hin. Ein Symbol beschreibt einen Zusammenhang, der so vielschichtig ist, so viel Information ent­hält, dass er abstrahiert werden muss, um die ganze ihm inne liegende Wahrheit zu erkunden. Das Ikon hingegen steht eindeutig für eine Sache, die vielschichtig sein mag, dessen Bedeutung für den Betrachter an sich irrelevant ist; es ist beliebig austauschbar, eine reine Assozi­ation. Zwar kann auch ein Ikon zum Symbol werden. So wie die Shell-Muschel für manch einen Globalisierungs­gegner zum Inbegriff des Widerstands gegen die Petrol-Industrie und ihre Machenschaften z.B. in Zentralafrika geworden ist. Es beinhaltet jedoch diese Doppeldeutigkeit nicht, sondern entwi­ckelt diese erst durch die Beschäftigung mit ihm.

Im Gegensatz dazu ist z.B. das christliche Kreuz ein vollwertiges Symbol (gewor­den). Zuerst als Tötungsinstrument im Dienste der römischen Besatzungsmacht verliert es durch den erlebten Bezug seine ikonische Kraft als Abschreckungsme­chanismus und wird von einer kleinen Gruppe von Juden als ihr Symbol auser­koren. Fortan bedeutet das Kreuz sowohl Unterdrückung als auch die Befreiung aus dieser und wird zum Symbol, zum Sinnbild einer Prozesshaftigkeit hin zur Freiheit, die wir schließlich als aktuell beste und modernste Form der Reali­tätsbeschreibung fanden. Sowohl die Bestrebungen der Renaissance als auch der modernen Dialektik gingen in Richtung des Erkennens einer im Wandel befind­lichen Welt, die nur in ihrer Bewegung zu deuten ist. Das Kreuz ermöglichte in vielerlei Hinsicht diese Auffächerung der Bedeutung und wurde so, im Zuge der Evolution des Abendlandes sukzessive zum Symbol für Befreiung, Unterdrü­ckung, Massenhysterie und Mord, aber auch zum Zeichen für Versöhnung, Ver­ständnis und Gleichberechtigung. Genau dies ist die Kraft, die einem Ikon abgeht. Man möchte fast behaupten, das Ikon sei der Keim, die Saat, aus dem das Sym­bol erst entstehen kann.

Dies ist gegenwärtig seltenst der Fall: Die Wirkkraft des Symbols ist machtzer­setzend. Es scheint in Mode gekommen zu sein, das Aufkeimen von Symbolen zu verhindern oder, noch besser, deren Symbolgehalt zu missbrauchen, um sie wieder zum eindeutigen Ikon umzu­funktionieren. So gibt es bei der Shell AG einen internen Dienst, der seinen all­jährlichen »Umweltjahresbericht« veröf­fentlicht, um so diese symbolbildenden Tendenzen zu assimilieren, sprich sie zu zersetzen.

Symbole sind insofern für jede herr­schende Machtstruktur ein Ärgernis, da sie als Sinnbild dienen, Sinn ein zwei­schneidiges Schwert ist und letztendlich immer auch die persönliche Haltung den Sinn erzeugt. So erzeugt Sinn Individua­lität et vice versa. Mit Individualität las­sen sich Massen nur begrenzt zu Konsum oder Glauben bewegen. Die Katholische Kirche konnte dies auch nur dadurch bewerkstelligen, indem sie zwar ein Sym­bol zur Machtausübung nutzte, dieses jedoch durch systematische Dekultivie­rung Ihrer Subjekte zum Ikon reduzierte (wo keiner denken kann, kann auch kei­ner mehrdeutig denken …). Erlangt eine Mehrzahl an Menschen jedoch einen gewissen Bildungsstand, so machen sich die darin enthaltenen Individuen flugs ihre eigenen Bedeutungen, das eindeutige Ikon »zerfällt« zum Symbol, welches jeder individuell deuten kann. McDonalds hat so lange Rekordeinnahmen erzielt wie die »Golden Arches« das Ikon für Fast­food waren. Jetzt aber, da die Bögen zu doppeldeutigen Symbolen der Fast-Food-Industrie mutiert sind, schwindet die Marktmacht des Giganten.

Bevor die Bilder vom Krieg auf unseren TV-Schirmen auftauchten, waren die Symbole des Krieges für Unbeteiligte nicht nachvollziehbar und für die Betei­ligten meist tabu. Symbole des Schlacht­feldes blieben auf jenem und deren Bedeutung auch. Das höchste der Gefühle an Symbolik war da noch die Ver­leihung von Orden, die in ihrer ikono­graphischen Natur und Macht ungebrochen bleibt: ein Orden, eine Medaille, eine Auszeichnung jedweder Art ist geradezu prädestiniert zur Vereinfachung und Stilisierung der Gräuel, des Geschäfts mit dem Tod. Als Höhepunkt die Flagge, als Logo der WAR inc. Später drangen die Bilder vom Krieg jedoch mitten hinein in die Wohnzimmer. Eine Schlüsselrolle fällt da im vergangenen Jahrhundert sicherlich dem Vietnam­krieg zu, der die Gefahr der Mehrdeutig­keit für die Staatsmacht ganz offensicht­lich machte (der Tod ist nun mal eine doppeldeutige Angelegenheit, auch wenn die Sache eindeutig ist). Insofern ist die seit dem Ende der siebziger Jahre anhal­tende Bestrebung der medialen Öffent­lichkeit, Symbole möglichst zu reduzie­ren, nachvollziehbar.

Doch das Zeitalter der Live-Übertragung ist vorbei. Was bleibt ist eine Staatsmacht und eine vor allem private, hegemoniell strukturierte Wirtschaftsmacht, die alles daran setzt, Symbole gar nicht erst ent­stehen zu lassen. So werden die Versu­che, den 11.9.2001 als vielschichtiges Ereignis zu betrachten vor allem in den USA aber auch overseas (meint hier bei uns) verpönt, deren Äußerungen tabui­siert bzw. kriminalisiert. Die fallenden Twintowers haben kein Symbol zu sein! Sie sind das eindeutige Ikon für alles, was gegen die westliche Zivilisation steht. »Entweder für oder gegen uns!«, das ist nicht zweideutig. Doch wofür sein, wogegen sein? Gegen den Massenmord an 3000 Zivilisten, ja klar! Für grenzenlosen und unkontrollierbaren wirtschaftlichen Darwinismus, NEIN!

Es ist geradezu lehrbuchhaft, wie die modernen Massenmedien durch das ständige, immer abgehacktere und kürzer zusammen geschnittene Wiederholen der zwei Einschläge der Flugbomben von New York, dieses Ereignis auf ein Bild, das Bild schrumpfen ließen, in dem jede Menschlichkeit, jedes wirkliche Erleben dieses Horrorszenariums beseitigt wur­de, um dadurch ein unantastbares »Ideal­bild« der Bedrohung zu gießen, welches vor allem eine Absicht hat: die mehrdeutigen Hintergründe dieser abscheulichen Tat vergessen zu machen, um eine eindeutige Handlungsperspektive zu destillieren: Vergeltung. Doch wie will man vergelten, wenn man Mitleid empfindet? Also weg mit dem Mitleid! Dieses Mega-ikon 911 ist so perfekt, dass jeder, ein­schließlich mir, es als Beispiel für alles nutzen kann; das erste polymorph-per­verse Ikon der Neuzeit …

Es ist ein weiter Bogen, den ich hier versucht habe zu spannen und manches mag plakativ erscheinen. Doch am Ende meiner Überlegungen frage ich mich, ob dieser Prozess, den ich hier einmal Desymbolisierung nennen möchte, ein so außergewöhnlicher ist. Ich neige dazu anzunehmen, vielleicht ist es auch nur meine Hoffnung, dass diese Strategie schon öfter angewandt wurde. Meist dann, wenn die, eine Kultur konstituie­renden, alten Symbole ihre Bedeutung zu verlieren drohen und die aus ihnen entstandenen Institutionen an der Macht festhalten. So war es unter anderem mit dem römischen Senat, der spätestens mit der Inthronisierung Kaiser Augustus seine Bedeutung als Symbol der Repub­lik verlor und fortan von den machtha­benden Cäsaren zur Legitimation ihrer Allmachtsphantasien instrumentalisiert wurde. Das Ikon, das Abbild eines Senats eben … But it’s not the real thing!

In vielen Gesprächen mit Freunden und Bekannten bemerke ich in letzter Zeit ein Unwohlsein, ein Unbehagen angesichts der aktuellen Lage, sei sie nun politisch, wirtschaftlich, sozial oder irgendwie ander­wärtig überpersönlich geartet. Viele, ich eingeschlossen, bemerken eine Sinnleere, die sich schleichend über die ganze westliche Zivilisation ausbreitet wie ein Krebsgeschwür und nun an der Schwelle steht, auch in unser persönliches Leben, die Organe des Gesellschaftskörpers, einzu­dringen. Diese Krankheit entsteht, wie alle reellen Krankheiten, nicht aus dem Nichts heraus. Der Erreger, der sie ver­ursacht und verbreitet, ist das Ikon. Und das Symbol? Es ist wahr: viele der alten Symbole haben ihre Bedeutung verloren. Andere sind missbraucht worden und sollten einige hundert Jahre ruhen. Was soll’s … dann machen wir uns eben neue. Die Schöpferkraft des Menschen, auf die ist Verlass, sage ich mir. Und intelligente und gebildete Menschen lassen sich von der Hegemonie des Ikons nicht beein­drucken, so meine Hoffnung weiter.

Fußnoten:

  1. http://www.versaonline.de/